01.01.2017

Südtirol nach 1918

von Redaktion Redazione
L'Alto Adige dopo il 1918

Im November 1918 endete der Erste Weltkrieg. Gleichzeitig ging damit der Zusammenbruch der Donaumonarchie einher und für Südtirol, wie wir es heute kennen, bedeutete dies einiges an Veränderungen: am 10. September 1919 wurde in Saint Germain bei Paris offiziell besiegelt, dass Südtirol von nun an Teil Italiens sein wird.

Südtirol zur Zeit des Faschismus

Durch die Eingliederung Südtirols in den italienischen Staat wurden die deutsch- und ladinischsprachigen Bewohner und Bewohnerinnen zu einer sprachliche Minderheit. Südtirol (und anderen neu eingegliederten Gebieten) wurden daher Sonderrechte zugesichert: darunter der Fortbestand ihrer eigenen Schulen, Institutionen und Vereine. Auch über Autonomierechte wurde schon gesprochen. Das sollte sich aber schnell ändern, denn mit der Machtergreifung des Faschismus kam es zur „Assimilierung“ und „Italianisierung“: Nach dem Willen der Faschisten sollte im gesamten Staat Italien nur mehr die italienische Sprache und Kultur existieren; also durfte es keine Minderheiten, keine anderen Sprachen und keine anderen Kulturen mehr geben.

Ziel der Faschisten war es, für die Menschen in Südtirol und anderen Gebieten mit Sprachminderheiten das Ende ihrer Identität herbeizuführen. Der Versuch der Italianisierung durch die Faschisten war der Beginn massiver Unterdrückung. Vehementester Vertreter der Assimilierungs- und Italianisierungpolitik war Ettore Tolomei. Sein Programm war umfassend: Es sah beispielsweise das Verbot des Namens Tirol vor, die Italianisierung der Orts- und Flurnamen, die Italianisierung der Familiennamen und Grabinschriften, den Unterricht ausschließlich in italienischer Sprache, Italienisch als alleinige Amtssprache u. a. m. Alles Deutsche wurde aus dem öffentlichen Leben gestrichen.

So sollte ganz Italien einheitlich italienisch erscheinen.

Sofort regte sich in Südtirol Widerstand gegen die Unterdrückungen. Kanonikus Michael Gamper baute unter Mithilfe von mutigen Lehrpersonen im ganzen Land deutsche Geheimschulen auf. Im Untergrund wurde auf diese Weise versteckt deutscher Unterricht erteilt. Das waren die so genannten Katakombenschulen, die die faschistischen Behörden mit rücksichtsloser Härte verfolgten.

Die Option

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland wurden die Faschisten Verbündete der Nationalsozialisten. Dadurch wurde der Brenner als Südgrenze des damaligen „Deutschen Reiches“ sogar noch untermauert.

Besonders einschneidend für Südtirol war das Deutsch-Italienische Abkommen zur Umsiedlung der Südtirolerinnen und Südtiroler, das am 22. Juni 1939 in Berlin besiegelt wurde. Bis Jahresende konnten die Südtiroler sich entscheiden für die deutsche Staatsbürgerschaft mit der Auflage der Abwanderung ins Reich oder für die Beibehaltung der italienischen Staatsbürgerschaft, wobei keinerlei Schutz für ihr Volkstum bestand. Wer keine Wahl im einen oder anderen Sinn traf, dem blieb automatisch die italienische Staatsbürgerschaft.

Das war die „Option„, die die Bevölkerung in die so genannten Optanten und Dableiber spaltete. Nicht zuletzt durch die einseitige Propaganda entschieden sich satte 86% für die Auswanderung. Der Zweite Weltkrieg verhinderte aber großteils die Durchführung der Umsiedlungspläne. Nach dem Fall des Faschismus 1943, dem Einmarsch deutscher Streitkräfte in Südtirol und der Errichtung der „Operationszone Alpenvorland“, zu der die Provinzen Bozen, Trient und Belluno zusammengeschlossen wurden, kamen neue Schrecken hinzu: Zwangseinberufung und Sippenhaft verbreiteten Angst und Schrecken in Südtirol. Der Widerstand und der Kampf für Südtirols Kultur lebten trotzdem weiter, nur seine Gegner veränderten sich. Im Juli 1944 wurde von der NS-Besatzung in der Kaiserau bei Bozen ein so genanntes „polizeiliches Durchgangslager“ errichtet. An die 11.000 von den Nazis Verfolgte wurden dort zeitweise festgehalten.

Im Podcast „Option. Stimmen der Erinnerung. Le Opzioni in Alto Adige/Südtirol“ vom Center for Autonomy Experience, den Vereinigten Bühnen Bozen und dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck erzählen ZeitzeugInnen aus erster Hand über diese Zeit und teilen ihre Erinnerungen. Hör mal rein auf Spotify oder Itunes rein!

Der Pariser Vertrag

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Südtirolproblem
international. Die italienischen Vertreter auf der Pariser Friedenskonferenz wollten von einer Abtretung Südtirols nichts wissen. Österreich war zu Verhandlungen bereit. So kam es am Rande der Friedenskonferenz zu einem Abkommen zwischen dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide Degasperi und dem österreichischen Außenminister Karl Gruber. Am 5. September 1946 wurde also in Paris das Gruber–Degasperi–Abkommen unterzeichnet, bekannt auch als der Pariser Vertrag. Das ist die Grundlage für unsere Autonomie. Die Brennergrenze blieb, doch wurde erkannt, dass Minderheiten geschützt werden müssten. Erstmals gab es Zusicherungen für die deutschsprachige Minderheit in Südtirol. Das italienisch-österreichische Südtirolabkommen, der Pariser Vertrag, wurde Bestandteil des Friedensvertrags, den die Alliierten mit Italien schlossen.

Der Text des Pariser Vertrages in deutscher Sprache:
(aus: „Das neue Autonomiestatut“,12. Aufl. 2005, S. 9/10)

Abkommen, das am 5. September 1946 zwischen der österreichischen und der italienischen Regierung zustande gekommen ist: 

1. Die deutschsprachigen Bewohner der Provinz Bozen und der benachbarten zweisprachigen Gemeinden der Provinz Trient genießen die volle Gleichberechtigung mit den italienischsprachigen Einwohnern im Rahmen besonderer Maßnahmen zum Schutze der völkischen Eigenart und der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der deutschen Sprachgruppe. In Übereinstimmung mit den bereits erlassenen oder zu erlassenden gesetzlichen Maßnahmen wird den Staatsbürgern deutscher Zunge im besonderen gewährt:
a) Volks- und Mittelschulunterricht in ihrer Muttersprache;
b) Gleichberechtigung der deutschen und italienischen Sprache in öffentlichen Ämtern und amtlichen Urkunden wie auch in der zweisprachigen Ortsnamengebung;
c) das Recht, die deutschen Familiennamen wiederzuerwerben, die im Laufe der vergangenen Jahre italienisiert wurden;
d) Gleichberechtigung bei Zulassung zu öffentlichen Ämtern, zum Zwecke, eine angemessenere Verteilung der Beamtenstellen zwischen den beiden Volksgruppen zu verwirklichen.

2. Der Bevölkerung obengenannter Gebiete wird die Ausübung einer autonomen Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt für den Bereich ihrer Gebiete zuerkannt. Der Rahmen, in welchem die besagte Autonomie Anwendung findet, wird noch bestimmt, wobei auch örtliche Vertreter der deutschsprachigen Bevölkerung zu Rate gezogen werden.

3. Die italienische Regierung verpflichtet sich, zum Zwecke der Herstellung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen Österreich und Italien, nach Beratung mit der österreichischen Regierung und innerhalb eines Jahres nach Unterzeichnung vorliegenden Vertrags:
a) im Geiste der Billigkeit und Weitherzigkeit die Frage der Staatsbürgerschaftsoptionen, welche sich aus dem Abkommen Hitler-Mussolini vom Jahre 1939 ergibt, neu zu regeln;
b) eine Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Gültigkeit gewisser Studientitel und Hochschuldiplome zu treffen;
c) ein Abkommen über den freien Personen- und Güterverkehr zwischen Nordtirol und Osttirol auf dem Schienenwege und in möglichst weitgehendem Umfange auch auf dem Straßenwege zu treffen;
d) Sonderabmachungen zur Erleichterung eines erweiterten Grenzverkehrs und örtlichen Austausches bestimmter Mengen heimischer Erzeugnisse und Güter zwischen Österreich und Italien zu treffen.“

Zu Jahresbeginn 1948 wurde von der italienischen verfassungsgebenden Nationalversammlung das erste Autonomiestatut genehmigt.
Das Autonomiestatut wurde der gesamten Region, bestehend aus den Provinzen Bozen und Trient, gewährt. Die meisten Kompetenzen lagen damit beim Regionalrat und der Regionalregierung. Dies widersprach aus Südtirols Sicht den Zielsetzungen des Pariser Vertrags. Denn die Selbstverwaltung lag damit in den Händen der italienischen Mehrheit. Zwar wurde die Optantenfrage rasch geregelt, ansonsten ging aber in der Erfüllung des Pariser Vertrages kaum etwas weiter.

Los von Trient!

Aus Rom wehte ein autonomiefeindlicher Wind. Dies bemängelte man auch von österreichischer Seite. Österreich wurde durch den Staatsvertrag im Mai 1955 ein souveräner Staat und damit frei von der alliierten Besatzung. Nun war es bestrebt, über seine Außenpolitik in Rom die Umsetzung des Pariser Vertrages zu erreichen. Die römische Regierung aber sah das Südtirolproblem als innerstaatliche Angelegenheit an und den Pariser Vertrag bezüglich der Autonomie als erfüllt. Außerdem förderte die römische Regierung die Zuwanderung von Italienern nach Südtirol. Die Lage spitzte sich zu, als Rom im Oktober 1957 die Errichtung eines neuen Stadtteils mit fünftausend Wohnungen in Bozen ankündigte. Dies erhöhte in der deutschen Sprachgruppe die bereits bestehende Angst vor italienischer Unterwanderung.

Daraufhin hielt die Südtiroler Volkspartei (SVP) am 17. November 1957 eine Protestkundgebung auf Schloss Sigmundskron ab. Dort forderte der Parteiobmann der SVP Silvius Magnago mit dem „Los von Trient“ eine eigene Autonomie für Südtirol. Rom gab nicht nach. Nachdem Italien dem Drängen Österreichs, Verhandlungen aufzunehmen, nicht entsprach, brachte der österreichische Außenminister Bruno Kreisky das Südtirolproblem vor die Vereinten Nationen (UNO). Die UNO-Vollversammlung forderte 1960 und 1961 Österreich und Italien auf zu verhandeln und eine Lösung hinsichtlich der Durchführung des Pariser Vertrages zu finden.

Bomben und Paket

Jedoch auch auf ganz anderer Ebene wurde in Südtirol um Aufmerksamkeit und Gehör gekämpft. In der Nacht des Herz-Jesu-Sonntag 1961, der so genannten „Feuernacht“, wurden mehrere Dutzend Hochspannungsmasten gesprengt. Man wollte damit die oberitalienischen Industriegebiete von der Stromzufuhr abschneiden. Die Bombenexplosionen sorgten für großes Aufsehen. Sie hatten ja auch zum Ziel, die internationale Aufmerksamkeit auf Südtirol zu ziehen. Auf die Attentate folgten scharfe Polizeiaktionen. Dennoch gab es auch in den nächsten Jahren noch Anschläge. Die ersten Attentäter versuchten Menschleben zu schonen. Doch bei späteren Anschlägen kamen vor allem Angehörige der Streitkräfte ums Leben. Heute werden diese Jahre die „Bombenjahre“ genannt.

Die römische Regierung wird wohl den Ernst der Lage erkannt haben. Jedenfalls setzte sie eine Kommission aus 19 Mitgliedern ein, die Neunzehnerkommission. Sie erhielt die Aufgabe, das Südtirolproblem genau zu untersuchen und der Regierung Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Die Vorschläge der Kommission waren dann Gegenstand der Verhandlungen zwischen Italien und Österreich unter Einbeziehung der politischen Vertreter Südtirols.

Schließlich wurden die Verhandlungsergebnisse zu einem „Paket“ zusammengefasst. Das „Paket“ enthielt also eine lange Reihe von Maßnahmen, die umzusetzen waren, damit Südtirol seine eigene Autonomie erhalten konnte. 1969 stimmte die SVP auf einer außerordentlichen Landesversammlung mit knapper Mehrheit für die Annahme des Paketes. Anschließend wurde das Paket dem italienischen Parlament vorgelegt und von diesem als neues Autonomiestatut verabschiedet. Dieses zweite Autonomiestatut beinhaltet viele wichtige Bestimmungen zum Schutze der deutschen und ladinischen Volksgruppe, ist aber gleichzeitig auch für die italienische Volksgruppe in Südtirol von Bedeutung.

Den beiden Provinzen Bozen und Trient wurden weitgehende Kompetenzen in Gesetzgebung und Verwaltung zugesichert. Damit dieses neue Autonomiestatut auch umgesetzt werden konnte wie auch zur Erlangung der Zuständigkeiten, mussten eigene Durchführungsbestimmungen ausgearbeitet werden. Wiederum wurden dafür Kommissionen gebildet: die Sechser- und die Zwölferkommission. Im Jahr 1992 kam es zum Paketabschluss. Österreich und Italien legten daraufhin der UNO die Streitbeilegungserklärung vor.

Autonomie als Vorzeigemodell

In der Folgezeit wurden der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol vom Staat weitere Kompetenzen übertragen: die Verteilung elektrischer Energie, die Schulordnung des Landes und die Errichtung einer Universität. Am 31. Oktober 1997 wurde daraufhin Südtirols erste Uni gegründet, die Freie Universität Bozen mit Sitz in Bozen und Brixen. Einen gewissen, zumindest vorläufigen Abschluss in dieser Entwicklung brachten 2001 die Abänderung des Autonomiestatutes aus dem Jahre 1972 sowie die Abänderung der italienischen Verfassung.

Die Abänderung des Autonomiestatutes brachte dem Land Südtirol (und der Nachbarprovinz Trentino) eine deutliche Aufwertung gegenüber der Region. So werden die Abgeordneten jetzt nicht mehr als Regionalratsabgeordnete gewählt, sondern als Landtagsabgeordnete nach einem Wahlrecht, das sich das Land selbst geben kann. Diese Bestimmung wurde bereits 2003 bei der ersten darauf folgenden Landtagswahl angewandt. Eine weitere wichtige Änderung geht besonders zu Gunsten der ladinischen Sprachgruppe, die von nun an auch in der Landesregierung vertreten sein kann.

Ebenso steht einem Abgeordneten bzw. einer Abgeordneten der ladinischen Sprachgruppe das Amt eines Vizepräsidenten bzw. der Vizepräsidentin des Landtages zu, mehr noch: Mit dem Einverständnis der Abgeordneten der deutschen bzw. italienischen Sprachgruppe könnte ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete der ladinischen Sprachgruppe, also der kleinsten Sprachgruppe im Land, das Amt des Landtagspräsidenten bzw. der Landtagspräsidentin bekleiden.

Der Einsatz aller Beteiligten hat die Autonomie Südtirols zu einem Vorzeigemodell gemacht. Auch wenn die neuen Kompetenzen eine immer größere Verantwortung und Sorgfalt in deren Wahrnehmung erfordern, so hat Südtirol ein noch nie zuvor gehabtes Maß an Selbstverwaltung vorzuweisen. Somit ist die Autonomie Südtirols neben der Kultur und der Landschaft ein weiteres einzigartiges und ganz besonderes Merkmal unseres Landes.